Weiter im Schwiegermutter-Projekt: Alles Private ist politisch

von Eva Herold

Ich kann mir, obwohl ich hier den Plan und die Maße liegen habe, nicht wirklich vorstellen, wie groß oder klein meine neue Wohnung sein wird. So winzig, dass ich vielleicht ein Schild aufstellen sollte: „Bitte einzeln eintreten“? Nein, sagt Frank, etwa ein Drittel deiner jetzigen Wohnung. Dann brauche ich doch nicht so viel wegzuwerfen, wie ich befürchtet hatte! Und wenn schon – alles eine Sache der Gewohnheit; fort mit dem Ballast, siehe oben. Nur die Freunde, die ich hier zurücklasse, kann ich nicht einfach „ablegen“, und doch verabschiede ich mich schon jetzt von jedem so, als sähe ich ihn nie wieder. Auch mit dem Gedanken, dass ich mich ja von vielen längst verabschieden musste, für immer.

Heute besuchte Frau L. mit mir das Seniorenheim, in dem gerade ihre 96-jährige (Nenn-)Tante – noch schnell vor dem Sommerurlaub der sie betreuenden Kinder – untergebracht wurde. Trotz ihrer Jahre ist diese alte Dame geistig vollkommen klar. Sie ist belesen, spricht klug über Politik und hat bisher allein in ihrer schönen Wohnung gelebt. Jetzt bewohnt sie ein einziges Zimmer – Bett, Schrank, Tisch, Stuhl. Und trotzdem ist sie dankbar, dass man sie so rasch aufgenommen hat, fügt sich mit Grazie in ihr Schicksal, findet kein Wort der Klage. Und ich? Wie blöd, wie undankbar komme ich mir vor, die ich doch nur eine Wohnung gegen eine kleinere eintauschen werde, die Kinder mich in ihrer Nähe haben wollen, Eva sich anscheinend wirklich auf mich freut…

Vielleicht ist die Abschiebung der Alten ins Heim sowohl eine Reaktion auf 1968 als auch auf den Feminismus: Sobald sich die Frauen weigern, ihren pflegenden, dienenden, angestammt „weiblichen“ Part weiterhin klaglos zu übernehmen, muss irgendeine Lösung für die alternden Mitbürger gefunden werden. Und bisher gibt es auf diesem Gebiet eben nur – analog zu den Kindertagesstätten – die triste Altenfreizeit und das grausame Verwahrwesen. Das würde bedeuten, dass wir uns jetzt in einer Übergangszeit, in einer Versuchsphase befinden, tastend nach Lösungen suchen, nicht zuletzt für unsere eigene Zukunft. Aber noch hängen wir Deutschen in einer Vergangenheits-Schleife fest. Denn wir sind nun einmal die Söhne und Töchter eines Volkes von Mördern und Mitläufern. Niemand von uns kann unbelastet die Alten ehren, wie es zumindest eine Option wäre in Ländern, wo man den Eltern zwar auch politisches und erzieherisches Fehlverhalten vorwerfen können, aber eben keine Nazi-Verbrechen.

Wir angehenden Kommunikations-Trainer treffen uns regelmäßig zur Fortbildung in A. Diesmal steht „NLP und der therapeutische Nutzen“ auf dem Programm; eine Pause ist angekündigt, man unterhält sich bereits über persönliche Erfahrungen. Gerade erzählt ein persischer Teilnehmer davon, wie in seinem Kulturkreis alte Männer ganz selbstverständlich den Jungen als Ratgeber dienen: „Wenn bei uns einer Liebeskummer hat, wendet er sich an einen älteren Verwandten, spricht darüber, hört dem Alten zu, und es geht ihm besser.“ Meine Gedanken driften ab: Hätte ich selbst je ein älteres Familienmitglied ins Vertrauen gezogen in einer privaten Krise? Auf keinen Fall! Zum ersten Mal empfinde ich jetzt scharf und schmerzlich, welchen Verlust es bedeutet, die eigenen Eltern und Großeltern nicht vorbehaltlos achten zu können.